20
Warrington blickte auf das vor ihm am Schreibtisch sitzende Paar.
»Sie glauben also«, sagte er zu dem schmächtigen, unbeholfen wirkenden Mann, »bei dem Mordopfer von Bringham handelt es sich eventuell um Ihre Mutter?«
Er holte tief Luft und sah die Frau an, die ihm ermutigend zulächelte. »Ich halte zumindest die Wahrscheinlichkeit für recht hoch«, erwiderte er. Zögerlicher Bursche, aber wer wäre das nicht bei der Vermutung, seine eigene Mutter wurde ermordet und unverzüglich verscharrt?
»Verstehe.« Warrington überflog das Protokoll, das Jeffers angefertigt hatte. Sie hatte die ganze Zeit über still in der Ecke gesessen und unaufhörlich geschrieben. Er war schon jetzt gespannt, was sie zu der Geschichte sagen würde. »Ihre Mutter ist vor zwanzig Jahren verschwunden – davongelaufen, wie Ihnen gesagt wurde. Der Zeitraum würde passen, und sie wurde als vermisst gemeldet.«
»Später wurde mir gesagt, sie sei verstorben.«
»Aber Sie haben nie eine Sterbeurkunde gefunden? Das überprüfen wir schneller als Sie, verlassen Sie sich drauf.« Warrington hielt inne. »Sie erinnern sich, dass Ihre Mutter öfter in Orchard House war, zu Ausbildungszwecken bei den alten Damen. Was waren das denn für Damen?«
»Die beiden Misses Underwood. Faith und Hope hießen sie.«
Die Namen ließen Jeffers aufhorchen. Offenbar kamen sie ihr bekannt vor. Interessant. »Welche Erinnerungen haben Sie an die zwei?«
Die junge Frau, Judy Abbott, lachte schrill auf. »Entschuldigung. Aber ich konnte nicht anders. Jeder in Bringham kann Ihnen eine Geschichte über sie erzählen, aber mach du weiter, James.«
»Das mag durchaus sein, aber mich würde interessieren, was Sie dazu zu sagen haben, Sir.«
James hielt inne, die Stirn gerunzelt, wie um sich zu konzentrieren. »Wann ich sie zum ersten Mal gesehen habe, kann ich nicht sagen. Sie waren einfach schon immer da. Als Kind fürchtete man sich vor ihnen, mit ihren keifenden Stimmen und den vielen Stoppeln auf der Oberlippe. Faith hatte lange, gelbliche Fingernägel, und ich hatte immer Angst, sie könnte mir wehtun, wenn sie die Hand nach mir ausstreckte, und Hope spuckte beim Reden.« Er schüttelte den Kopf. »Komisch, daran habe ich die ganzen Jahre über nie gedacht. Dabei waren sie noch gar nicht so alt damals. Vielleicht sechzig. Sie waren im ganzen Dorf als Hexen bekannt …« Wieder eine Pause. »Sie haben Magie betrieben, zumindest erzählte man sich das.«
Interessant. »Und Sie haben das geglaubt, Mr Chadwick?«
Eine lange Pause. Für Warrington nichts Neues: verdächtige Personen überlegten sich genau, was sie sagten. Nur war das kein Verdächtiger, sondern ein rechtschaffener Bürger mit wertvollen Hinweisen.
»Nicht so richtig, aber auf Drängen meines Onkels bin ich dem Zirkel beigetreten.« Das führte etwas ab vom Thema, aber vielleicht auch nicht. »Dieser Onkel war der Bruder meiner Mutter und mein Vormund.«
»Und um wen handelte es sich dabei?«
Es folgte eine weitere Pause, in der sein Adamsapfel genau einmal zuckte und er der jungen Frau einen Blick zuwarf, die ihm aufmunternd zulächelte. Chadwick reckte das Kinn und straffte die Schultern. »Sebastian Caughleigh.«
Bingo! »Verstehe.« Vielleicht nicht ganz, noch nicht, aber er würde der Sache auf den Grund gehen. Im Moment würde ihn das aber nur von der laufenden Befragung ablenken. »Sie haben also, nachdem Ihre Mutter Sie angeblich verlassen hat, nie mehr etwas von ihr gehört?«
»Nie mehr. Ich konnte es gar nicht fassen. Sie hatte versprochen, da zu sein, wenn ich nach der Schule nach Hause käme, aber sie war nicht da. Ich ging zu einem Freund und bat seine Mutter, sie anzurufen. Es antwortete niemand. Schließlich riefen sie bei Onkel Sebastian in der Kanzlei an. Er war außer Haus, aber sie hinterließen eine Nachricht, und als er kam, waren für mein Gefühl viele Stunden vergangen. Er sagte mir, meine Mutter habe mich verlassen. Einfach so. Ich dachte, er macht Spaß, aber dem war nicht so. Ein paar Monate später dann erfuhr ich, sie sei tot. Die genaueren Umstände ihres Todes habe ich nie erfahren, und wenn ich danach fragte, hieß es nur immer, ich solle still sein. Erst kürzlich entdeckte ich dann bei der Durchsicht der Familiendokumente, dass es ja gar keine Sterbeurkunde für sie gab.«
»Sie waren nicht bei ihrer Beerdigung? Und es hat auch niemand davon geredet?«
»Niemals. Kein Wort. Ich weiß, es klingt komisch, aber als Sechsjähriger stellt man Erwachsenen keine Fragen. Ich jedenfalls nicht.«
Armer Kerl, und nun sollte er über kurz oder lang womöglich die Wahrheit erfahren. Warrington sah auf die von Chadwick mitgebrachten Fotos. »Allein aufgrund dieser Bilder kann ich unmöglich was sagen. Sie müssen wissen, nach zwanzig Jahren ist die Verwesung schon ziemlich weit fortgeschritten, aber unser Labor kann anhand des Schädels das Aussehen rekonstruieren.« Chadwick zuckte zusammen. Verständlicherweise. »Absolute Gewissheit liefert nur ein DNA-Abgleich – das dauert aber leider ein paar Wochen –, aber auch ein Mutterschaftstest dürfte die Zweifel ausräumen.«
Sie nickten beide. Dann konnte man zum nächsten Schritt übergehen. »Ehe wir dem Steuerzahler diese Ausgabe zumuten, wären Sie vielleicht so gut, Mr Chadwick, einen Blick auf das Material zu werfen, das wir heute ausgegraben haben. Ein Teil der Gegenstände befindet sich in einem so schlechten Zustand, dass außer unseren Leuten vom Labor keiner mehr was damit anfangen kann, aber einige würde ich Ihnen doch gerne zeigen.«
James war sich nicht sicher, ob er diese Zuversicht teilen sollte. Bedeutete ein letztgültiger Nachweis auch wirklich Klärung? Oder würden dadurch nicht noch mehr Fragen aufgeworfen? Was, wenn die Tote tatsächlich seine Mutter war? Wer hatte sie dann dorthin gebracht? Und wenn sie es nicht war, wen hatten die alten Hexen dann noch auf dem Gewissen? Denn dass sie es gewesen waren, sie und sein lieber Onkel, daran hatte er keinen Zweifel. »Inspector«, fragte er, »als mein Onkel sein Geständnis ablegte, hat er da irgendwas von meiner Mutter erwähnt? Seiner Schwester?«
Warrington schien über die Frage nachzudenken. »Das weiß ich nicht, Sir. Mit dem Fall hatte ich nichts zu tun, aber das kann man nachschlagen. Meinen Sie, er hatte möglicherweise seine Finger mit drin?«
»Es gab kaum etwas im Dorf, wo er seine Finger nicht drin hatte. Und er war mächtig scharf darauf, Führer des Zirkels zu werden. Nach dem Tod der alten Ladys, sie starben kurz hintereinander, riss er die Führung sofort an sich.«
Die Art und Weise, wie ihn der Inspector daraufhin ansah, ließ James erschaudern. Warum hatte er so viel erzählt? Und, zum Hades, warum sagte Warrington nichts? Wenn Judy nicht direkt neben ihm gesessen hätte – sie glaubte ihm –, wäre er sofort wie ein geölter Blitz von hier verschwunden. Allerdings versperrte die im Raum anwesende Polizistin – Jeffers – nun die Tür.
»Das wären unsere Fundstücke, Sir.« Sie reichte Warrington eine große Plastiktüte.
»Danke«, sagte er, während er die Tüte übernahm und den Clipverschluss öffnete. Er sah zu James. »Bringt vielleicht nicht viel, Sir. Vielleicht sagt Ihnen das alles nichts, aber ich wäre Ihnen doch sehr verbunden, wenn Sie einfach mal schauen, ob Sie was damit anfangen können.« Er kippte etliche versiegelte Plastiktütchen auf den Tisch. »Die meisten Papiere, wie zum Beispiel der Führerschein und einige andere, werden im Labor entziffert, aber diese hier waren mehr oder weniger intakt.«
James starrte auf den Stapel. War er wirklich dazu bereit? Was ließe sich damit beweisen oder widerlegen?
Judy griff nach dem nächstliegenden Tütchen, hielt sich aber dann zurück, die Hand in der Luft. »Ist es in Ordnung, wenn wir sie anfassen, Inspector?«
»Tun Sie sich keinen Zwang an. Sie sind alle versiegelt.« Er lehnte sich zurück und wartete ab.
Judy breitet die Plastikpäckchen auf dem zerkratzten Schreibtisch aus. »Was meinst du, James?«
Es war eine Schnapsidee, hierherzukommen! Aber als er ihr in die Augen schaute, brachte er den Satz nicht über die Lippen. Eher hätte er sich die Zunge herausgerissen. »Ich weiß nicht.« Er war sich auch nicht sicher, ob er es wissen wollte, aber er war nun einmal hier und …
»Werfen Sie nur mal einen Blick darauf, wenn Sie möchten, Sir«, sagte Warrington. »Höchstwahrscheinlich ist alles schon zu sehr verrottet, aber man kann nie wissen …«
Judy zog das erste Päckchen näher heran. James warf einen vorsichtigen Blick darauf: eine vergammelte Ledergeldbörse. Ja, seine Mutter hatte eine wie diese besessen, mit Schnappverschluss. Er hatte sehr gern damit gespielt, auf und zu, auf und zu, aber wahrscheinlich hatte die Hälfte aller Britinnen ähnliche Börsen besessen, und weder an die Größe noch an die Form konnte er sich genau erinnern.
Das zweite Päckchen enthielt ein Taschentuch, durch die Jahre ausgeblichen und schlissig. Dann kam ein Tütchen mit losen Perlen und einem kleinen zerfressenen Stück Metall, das wahrscheinlich einmal der Verschluss gewesen war. Hatte seine Mutter an dem Tag eine Perlenkette getragen? Er hatte keinerlei Erinnerung, ob in der einen oder der anderen Richtung.
»Ich glaube nicht, dass uns hier irgendwas weiterhilft. Ist alles so alt und dreckig und …«
»Komm schon, James«, insistierte Judy. »Wenn du schon mal da bist, kannst du gleich alles durchsehen. Man kann nie wissen.«
Der zerbrochene Kuli könnte jedem gehört haben. Wie viele Millionen billiger Plastikkugelschreiber gab es denn auf der Welt? Beim letzten fest versiegelten Plastiktütchen jedoch schnürte sich seine Kehle zusammen und sein Herz fing an zu rasen.
»Bedeutet Ihnen das was?«, fragte Warrington.
Alles … unter Umständen. Aber wahrscheinlich bewahrten alle Mütter dieser Welt Haarlocken von ihren Babys in der Handtasche auf. Und vielleicht hielten sie alle das eine Ende mit rotem Siegellack zusammen und das andere mit einem schmalen, bleichen Band, das in der grellen Beleuchtung von Warringtons Büro grau und schmutzig aussah.
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Als spürte sie den ungeheuren Druck, unter dem er stand, umfasste Judy mit einer Hand seinen Unterarm.
»Kommt Ihnen was bekannt vor?«, fragte Warrington.
James nickte abermals. Es dauerte ein, zwei Minuten, bis er, schwer atmend und mit eng gespannter Brust, seine Stimme wiedererlangte. »Meine Mutter hatte immer eine Haarlocke von mir bei sich, angeblich eine der ersten, die man mir abgeschnitten hatte. Sie war sehr hell, fast weiß.« Und nun hatte sie einen schmutzig-grauen Ton angenommen.
Warrington nickte bedächtig. »Vielen Dank, Sir. Seien Sie meiner Anteilnahme versichert, sollte es sich bei Toten wirklich um Ihre Mutter handeln. Wir müssen noch den DNA-Abgleich machen, aber wir können eine genaue Identifizierung mit Sicherheit bestätigen oder ausschließen.« Er packte die versiegelten Päckchen wieder ein. »Es sei denn, durch einen merkwürdigen Zufall hatte eine andere junge Frau an diesem Tag Ihre Haare bei sich.«
»Unmöglich!« Er war sich sicher. »Sie hat immer gesagt, sie würde die Locke bis zu meiner Heirat sicher verwahren, um sie dann meiner Frau zu geben. Sie hätte sich nie davon getrennt.«
»Guter Punkt, Sir. Aber wie auch immer, der Mutterschaftstest wird die Frage ein für allemal klären.« Er stand auf. »Jeffers wird mit dem Labor einen Termin zur Probenabgabe für Sie ausmachen. Sollte Ihnen noch was einfallen, zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren.«
Und das war’s dann.
Zum Glück fuhr Judy. James hätte vielleicht gar nicht fahren können.
»Du siehst völlig fertig aus«, sagte sie beim Einsteigen. »Du glaubst wirklich, dass sie es ist?«
Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. »Ja!«. Er ließ seinen angestauten Atem entweichen. »Es kann gar nicht anders sein. Ich nehme an, viele Mütter tragen Babylocken bei sich, aber diese war hellblond, wie ich früher war. Meine Mutter verschwand in etwa zum passenden Zeitpunkt. Sie hat ganze Tage in diesem Haus zugebracht, und mir war es immer unverständlich, wie sie mich im Stich lassen konnte, und sie hat nie auch nur angerufen oder wenigstens eine Postkarte geschickt. Und was ist mit den anderen Details: keine Sterbeurkunde – Wahnsinn. Sebastian hat alles für sich behalten.«
Er lehnte sich gegen die Kopfstütze und schloss die Augen. »Wenn sie dort ermordet wurde, konnten es die beiden Alten unmöglich allein getan haben. Das hätten sie nicht geschafft, einen toten Menschen aus dem Haus und quer durch den Garten zu schleifen. Da muss ihnen wer geholfen haben.« Er scheute sich, den Namen auszusprechen, was für ihn fast einer Heraufbeschwörung des Bösen gleichkam, aber … »Es kann nur Sebastian gewesen sein. Darum wollte ich auch wissen, ob er bei seinem Geständnis was erwähnt hat.«
Er fiel in Schwiegen ob dieses schrecklichen Verdachts, der wie Blei auf ihm lastete.
»Was willst du denn jetzt machen?«, fragte Judy.
»Ich will weg, nur weg. Fahr einfach weiter, bis wir an der Küste sind. Ich will am Strand sitzen und nachdenken.«
»Okay. Nur tanken muss ich noch. Ist fast leer.«
Er riss die Augen auf und sah sie fassungslos an. »So war’s doch nicht gemeint! Du musst nicht.«
»Doch, du hast es so gemeint, und mir soll’s recht sein. Lass mich nur schnell tanken und meine Eltern benachrichtigen, und dann geht’s los. Du hast die Wahl – Brighton oder Worthing?«
Gwyltha verstand allmählich, warum Justin seinen sterblichen Sohn so sehr mochte. Sam war wirklich außergewöhnlich. Aber er war ja auch blutsverwandt mit einem Vampir. Auch wenn er sich nicht daran erinnerte, hatte dieser Blutaustausch ihn doch körperlich und geistig beeinflusst. Interessant.
»Sie können Mum wirklich nicht dafür verantwortlich machen«, insistierte Sam. »Das dürfen Sie nicht.«
Machte er ihr etwa Vorschriften? Wunder war es keins. Er hatte sich schon einmal mit ihr angelegt, um Justin zu retten. Jetzt war er im Begriff, seine Mutter zu verteidigen. Stella und Justin waren wirklich zu beneiden. »Mach ich auch nicht, Sam. Ich erklär dir mal unsere Gesetze. Bei uns ist es streng verboten, Sterblichen auch nur ein Haar zu krümmen, und Koloniemitglieder, die einem Unschuldigen ohne Grund Schaden zufügen, werden entsprechend bestraft. Aber wir treten auch für jene ein, die unter unserem Schutz stehen. Du bist einer davon. Deine Mutter hat in dir nicht nur ihren Sohn verteidigt, sondern sie hat auch verhindert, dass ein Übeltäter jemandem Schaden zufügt, der unter dem ausdrücklichen Schutz unserer Kolonie steht.«
»Bin damit ich gemeint?«
»Richtig, Sam.«
»Und ist ein Übeltäter so eine Art Schurke?«
»Ganz gewiss.«
Er nickte zufrieden und erleichtert. Und ein neues Wort hatte er dabei auch noch gelernt. »Gut. Dad macht sich auch so schon genug Sorgen.« Er hielt inne und nagte an seiner Lippe. »Versprechen Sie mir, es niemandem weiterzusagen, dass ich ihnen das gesagt habe? Ich habe zwar Dad versprochen, dass ich es niemandem sage, aber er hat mich nicht ausdrücklich darum gebeten, es ihm zu versprechen. Ich wusste einfach, dass er nicht wollte, dass Mum wusste, was er tat. Und da hab ich es ihm versprochen, damit er wusste, ich würde es ihr nicht sagen, und er sich somit keine Sorgen darüber machen musste, sie könnte es erfahren. Aber ich glaube nicht, dass es ihm was ausmacht, wenn Sie es wissen.« Reichlich kompliziert, aber sie konnte ihm folgen und wartete ab. »Mum weiß nichts davon, aber Dad beobachtet uns nachts. Ich weiß nicht, wo er wohnt, aber er kam letzte Nacht zum Hotel.«
»Wie denn das, Sam?«
»Er hatte sich in eine Eule verwandelt, aber es war eindeutig er. Ich glaube, er macht sich wirklich große Sorgen, und es wäre ihm lieber, wenn wir nach Hause fahren würden.«
Interessant, wie Sam Justin in dieser Gestalt erkennen konnte. Überaus erstaunlich sogar. »Und was wäre dir lieber?«
»Ich will zurück nach Hause! Es hat Spaß gemacht hier mit diesen bösen und unheimlichen Geschichten, aber ich will jetzt zurück zu meinem Dad.« Er unterbrach sich und winkte seiner Mutter. »Mum! Hier sind wir!«
Da kam Stella auch schon angelaufen, in weitgehend menschlichem Tempo, aber offenbar von schlimmsten Befürchtungen getrieben. »Sam?«, rief sie, »ist alles in Ordnung?«
»Aber klar doch«, erwiderte Gwyltha. »Sam hat mir von euren ereignisreichen zwei Wochen erzählt.«
»Verstehe.«
Klar verstand sie. Stella kannte Sam sicher und ohne jeden Zweifel besser als sonst jemand. »Sam, jetzt hab ich dich lange genug aufgehalten. Du wolltest doch zu den Ställen.«
»Sie wollen sich mit Mum unterhalten?«
»Sehr richtig, und ich glaube, sie hat mir auch etwas zu sagen.«
Er dachte kurz über die möglichen Konsequenzen nach. »Okay. Sagen Sie ihr, sie soll sich nicht so viele Sorgen machen. Dad passt schon auf uns auf.« Darauf rannte er blitzschnell weg, ohne dass Stella eine Chance blieb, darauf zu reagieren.
»Na dann«, sagte Gwyltha, indem sie Stella dazu bewegte, neben ihr Platz zu nehmen. »Sam glaubt also, du machst dir zu viele Sorgen.«
»Er weiß ja längst nicht alles! Ich würde ein Magengeschwür bekommen, wenn das noch möglich wäre, bei der Anstrengung, die Sorgen, die ich tatsächlich habe, vor ihm zu verbergen.«
»Hast du je dran gedacht, dass er trotzdem alles mitbekommt?«
»Ja! Und darüber mache ich mir zusätzlich Gedanken!«
»Sorgen und Mutterschaft sind so gut wie eins.«
Stella sah sie fragend an. »Du hattest Kinder?«
»Nein, diesen Schmerz und leider auch die Freuden hab ich verpasst. Dafür wurde ich dazu bestimmt, verwandelt zu werden. Ein Mann und eine Familie waren nie Teil meiner Vergangenheit oder meiner Zukunft.« Warum sich damit aufhalten? Besser, sich den aktuellen Problemen zu widmen. Sie hatte Stella sowieso schon mehr gesagt, als sie wollte. »Die Situation hier in Bringham bereitet dir Unbehagen?«
»Ja. Es ist einfach zu viel passiert. Rückblickend wünsche ich mir, wir wären sofort nach der Entführung unseres Autos wieder abgereist. Justin wollte das von vornherein, aber ich dachte mir, es ist alles bestens und unser Problem aus der Welt.«
»War es das nicht? Jude hat das Auto ausgetauscht, und die gestohlenen Juwelen befinden sich in den Händen der Polizei.«
»Das stimmt, aber was ist danach passiert? Wir haben eine Leiche im Garten gefunden!«
»Ja, davon hab ich gehört.«
»Sam hat alles gesehen! Nicht unbedingt die ideale Hauptattraktion eines netten kleinen Sommerurlaubs.«
Die arme Stella! »Wahrlich nicht, aber weißt du, meine Liebe, ich glaube, Sam macht sich mehr Sorgen darüber, dass du dir Sorgen machst, als über diesen unschönen Vorfall. Kinder verfügen über ungeahnte Überlebenskräfte und eine unglaubliche Fähigkeit, derlei Dinge gleichsam einzukapseln. Sicher, in der Schule wird er seinen Freunden jedes noch so grausige Detail auftischen und die Geschichte sogar noch weiter ausschmücken, aber dann, sobald wichtigere Dinge im Vordergrund stehen, vergisst er einfach das meiste.«
Stella nickte; sie glaubte Gwyltha. »Kann sein, aber meine Sorge ist trotzdem nicht ganz unberechtigt. Ich will jetzt nach Hause fahren und dort bleib ich dann auch erst einmal. Sam geht im September auf eine neue Schule und er braucht Zeit, um sich darauf vorzubereiten.«
»Er wechselt also auf Saint Aiden’s über?«
»Als Tagesschüler. Ist zwar eine lange Fahrt jeden Tag bis nach York, aber einer von seinen besten Freunden besucht auch diese Schule. Wenn er elf ist, bleibt er im Internat.«
»Um seinem Leben Stabilität zu geben, wenn du und Justin umziehen müsst, um ein neues aufzubauen.«
»Richtig. Anfangs gefiel mir diese Vorstellung überhaupt nicht, aber Justin hat recht. Auf diese Weise behält Sam wenigstens seine Freunde.«
»Auch eine Vampirin hat es nicht leicht als Mutter.«
»Du sagst es! Aus dem Grund will ich auch weg von hier. Am liebsten wäre ich gleich morgen gefahren, aber jetzt bleiben wir doch wie ursprünglich geplant bis Sonntag. Justin wird übers Wochenende bei uns sein. Er und Tom haben sich in Johns Haus in Epsom einquartiert und bewachen uns von dort aus. Sam weiß nichts davon – er würde sich nur unnötig Sorgen machen, und ich hab’s auch nur durch Zufall erfahren –, aber mir geht es doch besser bei dem Gedanken daran, dass sie ganz in der Nähe sind.«
»Wir können das Aufgebot noch verstärken, wenn du willst.«
»Durch weitere Koloniemitglieder?«
»Ja.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Die zwei Tage schaffen wir jetzt auch noch. Bist du deshalb extra hierhergekommen?«
»Nicht nur. Ich wollte auch sehen, wie es um Antonias neues Geschäft steht.«
»Läuft alles wie geplant, nur der Bau der Cafeteria verzögert sich halt. Wir suchen Personal aus und kümmern uns um die Auswahl der Künstler. Wir haben tolle Musterstücke eingesandt bekommen. Anfragen, bei uns mitzumachen, kommen aus dem ganzen Land. Es kann eigentlich nur ein Riesenerfolg werden.«
»Wie alle von Antonias Projekten bisher.« Und da man schon bei Antonia war, wenn sie sich nicht ganz täuschte, war die Tochter von König Vortax just in dem Moment im Anmarsch. »Ich glaube, sie kommt gerade.«
Stella wäre beinahe die Luft weggeblieben, bis sie sich an die Abstammungslinien unter Vampiren erinnerte. Antonia war ein Abkömmling von Gwyltha. »Sie kommt gerade von …« Nein. Lieber den Mund halten. Es war einzig und allein Antonias Angelegenheit, Gwyltha darüber zu informieren, was Michael für sie bedeutete. Und was er war. »Einem Kunsthandwerker hier in der Gegend, einem Töpfer, der seine Arbeiten an die Galerie liefert.«
»Verstehe.« Ihr Tonfall und das spitze Lächeln ließen Stella vermuten, Gwyltha würde wissen oder zumindest ahnen, was Antonia passiert war. »Lass uns ihnen entgegengehen.«
Ihnen? Stella würde sich hüten, Gwylthas Worte auch nur im Entferntesten anzuzweifeln. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, wegen der möglichen Verletzungen zur Rede gestellt zu werden, die sie diesem Autodieb beigebracht haben könnte. Und sie hatte sich auch schon mit den nötigen Argumenten gewappnet, aber wenn Gwyltha die Angelegenheit nicht zur Sprache brachte, würde sie es erst recht nicht tun.
Sie erreichten den Eingang des Hotels, als Antonia und Michael aus dem Van stiegen. Stella hoffte, Antonia wusste, was sie tat.
Allem Anschein nach ja.
Nach einem kurzen Zögern winkte Antonia, drehte sich um, lächelte Michael zu und nahm bewusst seine Hand und ging mit ihm auf sie zu.
»Ich nehme an, das ist der interessante Töpfer, von dem du gesprochen hast«, sagte Gwyltha.
»Ja«, erwiderte Stella. »Das ist Michael Langton.«
»Was ist er gleich wieder?«, fragte Gwyltha. »Weißt du es?«
Bloß schnell reagieren jetzt. »Ja, ich weiß es, aber es ist Antonias Sache, dir das zu sagen.«
»Natürlich.«
Antonia drückte Michaels Hand, um an seiner Kraft teilzuhaben, aber auch um ihm beizustehen. »Das ist Gwyltha, unsere Kolonieführerin«, flüsterte sie, wobei sie genau wusste, dass Gwyltha jedes Wort hören konnte, wenn sie wollte. »Komm doch einfach mit und lern sie kennen.«
»Warum nicht?«, erwiderte er. »Muss ich sie dann auch um Erlaubnis bitten, dir den Hof machen zu dürfen?«
»Benimm dich!« Über dieses Stadium waren sie längst hinaus.
»Gwyltha, willkommen in Bringham«, sagte Antonia, als sie, mit Michael im Schlepptau, herankam. »Darf ich dir Michael Langton vorstellen.«
»Ah!« Zum Teufel mit Gwyltha für dieses wissende Lächeln. »Wunderschönen guten Tag, junger Mann.«
Er nickte knapp und nahm ihre ausgestreckte Hand. »Guten Tag. Antonia hat schon viel von Ihnen erzählt.«
»Kann ich mir denken.«
Was meinte sie damit? »Mit dir haben wir gar nicht gerechnet, Gwyltha.«
»Ich habe gehört, hier im Süden passieren schlimme Dinge.«
»Aber auch angenehme und schöne.« Alle, einschließlich Antonia, starrten auf Michael. Er packte den Stier gleich bei den Hörnern. Wenn sie auch nur halb so entspannt und rosig aussah wie er, konnte sich sowieso jeder denken, wie sie den Nachmittag zugebracht hatten.
»Ja«, erwiderte Gwyltha mit zuckenden Mundwinkeln. »Kann ich mir denken, dass das ein angenehmer Nachmittag war. Stimmt’s Antonia?«
Miststück! »Überaus angenehm.« Sie hätte sich diesen treuherzigen Blick und das dümmliche Grinsen in Richtung Michael sparen sollen, aber sei’s drum. Einer wie Gwyltha hatte noch nie jemand was vorgemacht, warum es dann probieren? »Bleibst du länger hier?«
»So lange wie erforderlich. Habt ihr, was die unmittelbare Zukunft betrifft, irgendwelche Pläne?«
»Antonia und ich werden heiraten.«
Ach ja? Wirklich? Auf seinem Gesicht lag ein schelmisches Grinsen. Warum nicht? Die halbe Kolonie schien in diesen Tagen unter die Haube zu kommen. Warum dann nicht auch sie?
»Gratuliere!« Die gute Stella! Sie kam nach vorne und umarmte sie beide. Gwyltha blickte skeptisch drein. Sie hätte sich ruhig mehr Mühe geben können. »Mach dich darauf gefasst, dass Sam dir sofort seine Dienste als Brautführer anbietet. Er ist jetzt schon mächtig stolz darauf, Elizabeth zum Altar führen zu dürfen.«
Gwyltha verdrehte die Augen himmelwärts. »Warum muss so was aber auch ausgerechnet immer im Süden passieren?« Alle entschieden sich dafür, diese Frage als rein rhetorisch zu betrachten. Sie warf einen weiteren Blick in die Runde. »Hat jemand ’ne Ahnung, wo Elizabeth ist?«
»Ich«, sagte Stella. »Sie ist bis zum Abend zurück.«
»Ich bleibe so lange, um sie zu sehen«, erwiderte Gwyltha. »Und was Sie betrifft, Michael«, sagte sie und reckte sich, um ihre ein Meter fünfzig voll zur Geltung zu bringen, »was sind Sie eigentlich?«
»Ein Gestaltwandler, Madam. Ich würde es Ihnen gerne zeigen, aber vielleicht doch nicht hier.«
»Du machst Witze, oder?«, sagte Antonia, wobei sie versuchte, Gwylthas Erhabenheit nachzuahmen.
Er warf ihr einen liebevollen und spitzbübischen Blick zu. »Richtig, Liebling, wie immer.«
»Und welchen Nutzen, bitteschön, soll ein Gestaltwandler für die Kolonie haben?«, fragte Gwyltha.
»Das, Madam, wird sich noch herausstellen müssen«, erwiderte Michael. »Es ist allein eine Frage der Zeit. Und davon haben wir ja alle genug.«